Mit dem Elektroauto vom Ruhrgebiet nach Südfrankreich

Kapitel 4:
Die glückliche Fügung in Bulgnéville

Da trifft es sich wirklich mehr als gut, dass nun, schon am Ortsende, die Citroën-Werkstatt in Sicht kommt. Dort ist man sehr freundlich, aber désolé! – tut uns leid, einen passenden Starkstromanschluss habe man nicht, der finde sich im 15 km entfernten Städtchen Vittel – so gut wie unerreichbar! Ein Anruf dort ergibt, dass die Schnelllademöglichkeit dort erst am nächsten Morgen zur Verfügung stehen werde. Inzwischen hat Wolfgang, tatkräftig unterstützt von den durchaus interessierten und hilfsbereiten Mechanikern, eine 230-V-Ladung installiert. Unsere beiden E-Pioniere verständigen sich rasch: Wolfgang bleibt zunächst in der Werkstatt, Michael kümmert sich um eine Übernachtungsmöglichkeit.

Mit leisen Zweifeln, ob das Fehlen der 400-V-Dose nicht doch eher dem nahen Feierabend – es geht auf 17.30 h zu – geschuldet ist (Wie sonst wird das Schweißgerät oder die Hebebühne betrieben??!!), geht Michael zurück ins Dorf, dort haben beide trotz allen Stresses außer einem geschlossenen Hotel auch ein Schild Chambres d’hôtes, also einen Hinweis auf Gästezimmer gesehen.

Maison Blanchelaine

Maison Blanchelaine

Das entsprechende Anwesen entpuppt sich als ein behutsam renoviertes Herrenhaus von 1720, dessen Eingangsportal offensteht, ohne dass auch nur eine Menschenseele sichtbar wird, nicht auf Klingeln, nicht auf Rufen. Schließlich betritt Michael das Foyer: überall schöne, sicher auch wertvolle Antiquitäten, ein perfekt mit Tafelsilber und schwerem Damast gedeckter Speiseraum, irgendwo läuft ein Fernseher, auch die Küche ist menschenleer. Nach längerem Herumirren fast möchte man sagen: Durchsuchen – verlässt Michael das Haus, vielleicht ist man im Garten? Da meldet sich doch noch jemand: Monsieur Benoit Breton fragt freundlich nach dem Begehr, dann geht alles schnell: ja, zwei Zimmer stehen für je 75 €  zur Verfügung, Frühstück inklusive, was in Frankreich zumindest in Hotels unüblich ist. Von den Bedürfnissen einer Zoé hat Monsieur Breton noch nichts gehört, aber auf Michaels Versicherung, une prise domestique normale suffira, eine normale Haus-Steckdose werde reichen, ist alles klar, auch ein Stellplatz neben einem Schuppen mit einer solche Dose ist rasch gefunden.

Ein schneller Anruf und kurze Zeit später erscheint Wolfgang mit ZOE, die ca. halbstündige Ladung mit 230 V hat gerade einmal 6 oder 7 km Reichweitenplus gebracht. Als erstes wird ihr Stromdurst gelöscht, allerdings wieder ganz gemächlich mit einer voraussichtlichen Ladedauer von 14 h 40 min, die die Reisenden aber nun, da ihr Tagwerk vollbracht und ein Dach über dem Kopf gefunden ist, gar nicht weiter schreckt.

Die Zimmer der Maison Blanchelaine, die auch Wolfgang gefallen, sind geschmackvoll aufgefrischt und ebenso mit Dusche und WC wie mit schönen alten Möbeln ausgestattet. Nach einer Dusche, die auch eine erste Schicht des Lade-Stresses wegspült, fragen die E-Pioniere Monsieur Breton nach einer Gelegenheit zum Abendessen. Da gebe es einmal La Marmite Beaujolaise direkt bei der Kirche, aber wenn es um ein wirklich gutes Preis-Leistungs-Verhältnis gehe, dann empfehle er ein einfaches, aber kleines Restaurant in 200 m Entfernung, an einem See gelegen, "da, wo die Wohnmobile stehen."

Hinweis für die Camper

Hinweis für die Camper

Ein gemeinsamer Gang ins  Ortszentrum ergibt, dass der „Kochtopf des Beaujolais“ dienstags, also an diesem Tag, geschlossen ist, zugleich nutzt Michael noch schnell die Gelegenheit, in einer alimentation générale, in Deutschland würde man sagen: in einem Tante-Emma-Laden, eine Flasche Wein für den Dämmerschoppen nach dem Essen zu kaufen, den die E-Pioniere sich, wie beide übereinstimmen, heute wirklich verdient hätten.

Der Restaurant-Tipp Monsieur Bretons erweist sich auf den ersten Blick als bessere Imbiss-Bude mit Gartenmöbeln billigster Art im Außenbereich, aber erstens riecht es gut aus der Küche, zweitens ist die Lokalität gut besucht, letzteres in Frankreich eine untrügliche Empfehlung.

Das Restaurant bei den Wohnmobilen

Das Restaurant bei den Wohnmobilen

Draußen steht eine Tafel mit der Überschrift Menu und dessen Folge, nämlich tomates au basilic et mozzarella, ragout de poulet créoleau riz und dessert maison, also nach einer insalata caprese, wie es in deutsch-italienischen Pizzerien heißt, kreolisches Hähnchengeschnetzeltes auf Reis und Nachtisch nach Art des Hauses, das ganze zum Preis von günstigen 15 €. Eine kräftige Frau mittleren Alters und dunkelbrauner Haut, daher sicher der kreolische Einschlag der Küche, augenscheinlich Wirtin und Köchin zugleich, reagiert auf die Frage nach der Speisekarte mit freundlichem Unverständnis: was es gebe, stehe dort auf der Tafel, ob man sie vielleicht nicht gesehen hätte? Die Getränkebestellung bei ihrem (Lebens-?)Partner verläuft ähnlich: beim Wein bleibt nur die Entscheidung rot, rosé oder weiß, beim Apéritif und dem Tafelwasser nur, ob ja oder nein. Köstlich auch Michaels Versuch, die Tochter des Hauses, einen gelangweilt wirkenden Teenie, deren Sehnsucht nach Chillen mit Gleichaltrigen und ihre Unlust zu bedienen ihr förmlich ins Gesicht geschrieben steht, danach zu fragen, ob der Apéro nicht zu süß sei: die Antwort, ebenso unfreundlich wie unverständlich, vielleicht kreolisch, ergibt, dass es sich um irgendetwas auf Rum-Basis aus dem französischen Übersee-Departement Réunion handelt, kurze Zeit später steht ein – natürlich fruchtig-süßer – Appetitanreger vor den Gästen.

Die danach herunter geschraubten Erwartungen werden, was die Speisen angeht, auf das angenehmste übertroffen: die Vorspeise ist frisch, der Mozzarella passabel, das Olivenöl darüber gut. Das in der einsehbaren Küche jeweils frisch zubereitete Ragout hat Wok-Qualität, mit exotisch-scharfer Note, der Reis ist körnig, der Nachtisch, nämlich pruneaux à la cannelle au rouge, also Trockenpflaumen mit Zimt in Rotwein, erfrischend. Nur über den Weißwein beschließen die Reisenden den Mantel diskreten Schweigens zu breiten, die später wegen der noch herrschenden Wärme bestellten Eiswürfel konnten ihm jedenfalls auch nichts mehr anhaben.

Im Garten von Monsieur Breton

Im Garten von Monsieur Breton

Alles in allem aber breitete sich ein rundes abendliches Wohlgefühl aus. So nimmt es nicht Wunder, dass der Stresspegel der E-Pioniere deutlich gesunken war und sich mehr und mehr Entspannung einstellte, dazu das Gefühl, nach dem ersten ereignisreichen Tag nun im Reich der E-Mobilität „angekommen“ zu sein, auch wenn nicht einmal die Hälfte der Strecke und deutlich weniger als ursprünglich geplant geschafft war. Daran änderte, ins Herrenhaus zurückgekehrt, auch nichts die eher betrübliche Feststellung, dass ZOE eines der wichtigsten Bordwerkzeuge, nämlich ein Korkenzieher für die Dämmerschoppen-Flasche, fehlte. Auch das kein Problem für Monsieur Breton: rasch waren der tire-bouchon mitsamt zwei, nein drei Gläsern zur Hand, letzteres natürlich erst, nachdem man Monsieur Breton auf ein Glas in seinem großen, mit alten Bäumen bestandenen Garten eingeladen hatte. Als dann ein paar Einzelheiten der Reise erzählt wurden, stellte sich heraus, dass er als Antiquitätenhändler das Ziel der Reise, Barjac, über die zweimal im Jahr dort stattfindende brocante, einen riesigen Profi-Antiquitäten-Markt, bereits kannte und mehrfach als Händler dort gewesen war.

Noch auf dem Weg in den Garten entdeckte Wolfgang im Salon eine faszinierende, augenscheinlich recht alte Spieluhr. Dazu erläuterte Monsieur Breton, dass es sich um eine boîte musicale de gare, also eine Bahnhofsspieluhr, aus der Schweiz handele, die in den Wartesälen der Ersten Klasse im 19. Jahrhundert nach Aufziehen des Uhrwerks mit blechern klingenden Musikstücken und sich dazu bewegenden Figuren für Kurzweil sorgten. Wolfgangs Faszination stieg, als Monsieur Breton auf sein Bitten die Spieluhr durch den Einwurf einer Münze in Gang setzte – ein Schauspiel bot sich den Reisenden: hinter der großen Glasscheibe „tanzten“ drei weibliche Figuren zur Musik und man konnte der recht großen Walze der Spieluhr bei der Arbeit zusehen. Man könne zwölf verschieden Melodien abspielen, versicherte Monsieur Breton. Indessen wurde die Faszination über dieses mechanische Wunderwerk deutlich gedämpft durch die Preisvorstellung des jetzigen Besitzers. Zu echten Verhandlungen kam es (bislang noch?) nicht.

Am Ende des Tages waren die Reisenden – der Schreiber möchte sich nun wieder dieses Ausdrucks bedienen, da sich ja Entspannung eingestellt hatte und die Worte „E-Pioniere“ oder „Abenteurer“ eher mit Risiko, Gefahr, Angst assoziiert werden, und davon konnte zumindest an diesem Abend keine Rede mehr sein! – also die Reisenden waren soweit zu zweifeln, ob sie sich, sofern sich ihre Pläne B immer so entwickelten, nicht mehr solcher Pleite-Säulen wünschen sollten.

6. Ladestopp in Bulgnéville
Entfernung: 17 km
Ladestand: ca. 7 %
Rest-Reichweite: 10 km
Neuer Ladestand: 100 %
Neue Reichweite: 184 km

Da ging der Tag zur Neige und die Ausdauer des Chronisten erreichte ihre Grenze. Er hörte auf zu schreiben.
„Das ist aber eine spannende Geschichte“, sagte der Leser.
„Ach, lieber Leser, was ist das schon gegen das, was ich euch über den nächsten Tag berichten werde“, entgegnete der Schreiber, „da wird es erst richtig interessant.“
Und als die Zeit gekommen war, sagte der Leser: „Ach, lieber Schreiber, wenn du wieder frisch bist, so lass mich doch hören, wie die Geschichte weitergeht.“
„Mit Vergnügen“, antwortete er, griff zur Feder und fuhr fort.

Zum nächsten Kapitel: Neue Probleme in Lyon und ihre Lösungen