Mit dem Elektroauto vom Ruhrgebiet nach Südfrankreich

Kapitel 10:
Eine Beinahe-Herausforderung und phantasiereiche Spekulationen

Obwohl unsere Urlauber – nun wieder Reisende – am Sonntag, dem 31. Juli planmäßig, also um 5.45 h, aufgestanden waren, gelang ihnen der Aufbruch nicht, wie anvisiert, um 7.00 h, sondern erst ein halbes Stündchen später – pas de souci, kein Problem! So kehrten unsere drei Reisenden dem Renaissance-Städtchen Barjac mit einiger Wehmut den Rücken, nicht ohne eine Flasche „Blanc de blancs brut“, einem recht ordentlichen regionalen Sekt, auf der Fensterbank der energiespendenden Nachbarn zurückzulassen. Diese ließen später verlauten, der Sekt wäre ja wohl nicht nötig gewesen, aber „un grand merci“, und man habe die Reisenden am Morgen gar nicht abfahren hören – na ja, ein Elektroauto eben: lautlos unterwegs!

Der Verkehr auf den Landstraßen war von sonntagmorgendlicher Ruhe, auf der A 7, die diesmal in Bollène erreicht wurde, indessen eine Stunde später schon lebhaft. Das Gefälle zum Rhônetal hatte fleißiges Rekuperieren erlaubt, wie die Bilanz beim ersten Ladestopp zeigen sollte, und der befürchtete kräftigere Mistral war einer angenehmen Windstille gewichen. Allerdings erwies sich die ursprünglich angepeilte kostenlose Ladesäule des Groß-Kaufhauses Leclerc, die den Reisenden auf der Hinfahrt gute Dienste geleistet hatte, als Enttäuschung: Obwohl sie frei zugänglich ist, war sie außer Betrieb, weil, so vermuteten die Reisenden, das Kaufhaus geschlossen war.

15. Ladestopp in Bourg-lès-Valence
Entfernung: 106 km
Ladestand: 43 %
Rest-Reichweite: 73 km
Neuer Ladestand: 99 %
Neue Reichweite: 179 km

Trotz dieses Einbruchs sollen die Reisenden noch nicht wieder „E-Pioniere“ oder „Abenteurer“ genannt werden, da diese kleine Katastrophe sich insofern in Grenzen hielt, als man noch auf reichlich Rest-Reichweite zurückgreifen konnte, was zur inneren Balance des Gemüts der Reisenden beitrug.

ZOE erreichte wenige Autobahn-Km weiter um 9.30 h den Aire de service latitude 45 gegenüber des Aire de Pont de l’Isère, genau die Rastanlage, die die Reisenden auf der Hinfahrt nach der Umgehung des Col du Grand Bœuf nicht hatten erreichen können. Der Name „Latitude 45“ weist darauf hin, dass die Rastanlage auf der geografischen Breite 45° liegt, d. h. dass es von hier – wie der geneigte und gebildete Leser wissen wird – genauso weit zum Nordpol wie zum Äquator ist. An der – allerdings kostenpflichtigen – Sodetrel-Säule funktionierte alles reibungslos, sodass sich unsere drei Reisenden, Wolfgang und Michael mit einer Erfrischung im Bauch, ZOE dagegen mit vollem Akku, auf den weiteren Weg nach Norden machten, das Nadelöhr Lyon als nächstes Ziel vor Augen. Doch zuvor der Col du Grand Bœuf! Dieser wurde nun nicht mehr an der Rhône entlang umfahren sondern mit Mut und Bravur genommen. Hier erwiesen sich die positiven Erfahrungen bezüglich der Akku-Ausdauer als berechtigt, die Reichweitenangst schien verflogen!

16. Ladestopp in Aire de Latitude 45
Entfernung: 23 km
Ladestand: 40 %
Rest-Reichweite: 68 km
Neuer Ladestand: 98 %
Neue Reichweite: 175 km
 

Für die Passage durch Frankreichs zweitgrößten Ballungsraum Lyon stehen dem Ortsunkundigen drei Möglichkeiten offen: eine Art Stadtautobahn, die als kürzeste Strecke mitten durchs Zentrum führt, der vierspurige Boulevard Périphérique, also ein innerer Ring um Lyon-Centre herum, und ein äußerer Autobahnring, ersterer mit einem Plus von 8 km, letzterer mit über 20 km Umweg. Der präzise und zuverlässige Verkehrsfunk Autoroute Info auf der in weiten Teilen Frankreichs gleichen Frequenz FM 107,7 MHz warnte schon weit vor Lyon vor einem bouchon, wörtlich Korken, also einem Stau von 3 km vor dem Tunnel de Fourvière, der Teil der direkten Linie ist, desgleichen war zu lesen auf den Schriftbändern über der Autobahn, die hinter dem Péage de Vienne, also bei Eintritt von Süden in die Agglomération Lyonaise, Tipps für die Durchquerung der Metropole des Südens geben.

Nun schieden sich die Ansichten von Michael und Wolfgang: Michael neigt durchweg dazu, auch kleinere Staus zu umfahren, selbst wenn dadurch Zeit nicht zu gewinnen ist, so auch hier, wogegen Wolfgang im Hinblick auf die angegebene recht geringe Staulänge dem gar nichts abgewinnen konnte. Indessen hatte sich ZOEs Navi auf Wolfgangs Seite geschlagen, und so blieb man auf der direkten Strecke. Nun hatte sich aber der Stau inzwischen deutlich verlängert, sodass sich schlussendlich ein Zeitverlust von 75 Minuten einstellte. So erreichten die Reisenden nach 97 km, aber erst um 12.30 h die anvisierte CNR-Ladestation. Die IKEA-Säule in St. Priest hatten sie nach den Erfahrungen auf der Hinfahrt und auch, weil wegen sonntäglicher Schließung kein freundlicher IKEA-Empfang mit der kostenlosen KiWhi-Karte winken würde, gar nicht erst in Erwägung gezogen.

Die CNR-Ladestation im Ortsteil Ecully befindet sich an einem Kreisverkehr vor imposanten Wohnhausblöcken und macht durch ein vergleichsweise großes Hinweisschild auf sich aufmerksam. Die letzten Meter der Zufahrt sind allerdings zumindest beim ersten Mal gewöhnungsbedürftig, sodass eine Ehrenrunde durch den Kreisverkehr notwendig wurde; für diejenigen unter den Lesern, denen diese schlichte Beschreibung zu ungenau ist: aus dem Kreisel, auf Französisch giratoire oder rond point, nicht in den Chemin  du Pérollier, sondern in Richtung Techlid, Maison du Département du Rhône, Déchetterie fahren und dann sofort raus auf den Parkplatz mit der Ladesäule, wo ZOE mit Hilfe der Freshmile-Ladekarte angeschlossen wurde.

Ihre Ladezeit nutzten die beiden Reisenden zu einem Imbiss in einem SB-Restaurant auf der anderen Seite des Kreisels, auf den ersten Blick nichts, was aus der Vielzahl ähnlicher Etablissements herausragt. Bemerkenswert waren allerdings zwei Dinge: wahrhaft ein Erlebnis die Flut der Entscheidungen, die ihnen abverlangt wurde bei der Zusammenstellung ihrer menus, die zum Preis von € 6,95 aus salade composée – dessert – boisson bestanden, also aus einem großen Mischsalat, Nachtisch und Getränk: der Salat mit Fleisch, mit Fisch oder vegetarisch, letzteres bedeutete überbackenen Ziegenkäse oben drauf; beim Fleisch die Wahl zwischen boeuf, porc, poulet, also Rind, Schwein oder Hähnchen, beim Fisch cabillaud, saumon, fruits de mer, also Kabeljau, Lachs oder Meeresfrüchte, ja und dann alternativ drei verschiedene Dressings, ganz zu schweigen von der Wahl zwischen drei Desserts, ach ja und welches Getränk, Cola, Wein oder Wasser, den Wein rot oder weiß, das Wasser still – eau plate – oder sprudelnd – eau pétillante??? Das Ganze wurde von der zunehmend maliziös lächelnden Service-Kraft in atemloser Geschwindigkeit heruntergebetet, und, wenn die Reisenden nicht schnell genug antworteten, doppelt so schnell wiederholt. Sie hatte wohl erkannt, dass es sich um Reisende aus dem Ausland handelte, der kleine Spaß zur Auflockerung ihrer Sonntagsarbeit sei ihr gestattet!

Nach derart schweißtreibender Bestellung und beim Verzehr der ganz passablen Speisen machten die Reisenden noch eine andere Beobachtung, die – auf den ersten Blick unerwartet – schnell ins Grundsätzliche führte, nämlich eine erstaunlich hohe Frequentierung der Toilette, letztere übrigens, wie häufig in Frankreich, nicht nach Geschlechtern getrennt. Die Zahl der aktuellen Gäste im Restaurant, die Reisenden eingeschlossen, lag bei elf oder dreizehn, gleichwohl herrschte auf dem stillen Örtchen ein auffällig reges Kommen und Gehen, wohl auch von einer oder zwei Personen, die unmittelbar von draußen kamen und das Lokal auch wieder verließen. So regten sich bei den Reisenden bald Zweifel über die Intention der Nutzer, und ungeachtet dubioser Appetitlichkeit stellte sich ein Bedürfnis nach behutsamer Differenzierung ein, und zwar nach Primär- und Sekundär-Motivation der Nutzung. Erschließt sich deren erstere jedermann unmittelbar, so ergab ein erstes Brainstorming einen ganzen Strauß von Sekundär-Motiven: von solchen, die nahe der Ursprungsnutzung liegen, so z. B. Körperpflege und Waschungen aller Art, Garderobenwechsel, Auffrischung des Make-Ups, der Frisur etc., bis hin zu solchen, die mit der Zweckbestimmung der Örtlichkeit seitens ihrer Erbauer oder Betreiber kaum noch in Verbindung zu bringen sind: wenn auch die Reisenden die dafür typischen Geräusche nicht wahrnehmen konnten, so soll doch in Toiletten-Kabinen das für den Erhalt der menschlichen Rasse Erforderliche dort schon vollzogen worden sein, oder aber, dies ebenso ohne konkret wahrnehmbare Anzeichen, ganze Generationen von Homosexuellen zueinander gefunden haben, letzteres allerdings vornehmlich zu – glücklicherweise längst vergangenen – Zeiten ihrer gesellschaftlichen Ächtung. Weitere atypische Nutzungen zu bezeichnen, mag der Lebenserfahrung oder auch der Fantasie des geneigten Lesers vorbehalten bleiben, dies schon deshalb, weil sowohl den Reisenden im Tischgespräch als auch erst recht dem Schreiber bei der Niederschrift bewusst wurde, dass es sich bei der Betrachtung der Abort-Kultur, ungeachtet des redlichen Bemühens der Reisenden um Sachlichkeit, prinzipiell und nach wie vor um ein sujet délicat, ein heikles Thema handelt.

Darüber verging ZOEs Ladezeit wie im Fluge. Auch ein – allerdings ganz überwiegend primär motivierter – Besuch der Örtlichkeit, und zwar nacheinander, so wird versichert, brachte den Reisenden keinerlei zusätzlichen Erkenntnisgewinn, sodass sie sich in den ersten Minuten der Weiterfahrt, die ZOE um 13.20 h antrat, auch fürderhin in mancherlei Spekulationen über die Motive der WC-Nutzer ergingen, woraus schließlich ganz allgemein Drogenhandel und im Konkreten die aktuelle Ankunft von Nachschub und seine möglichst rasche Verteilung als das wahrscheinlichste hervorging, ohne allerdings schlussendliche Gewissheit zu erlangen.

So kam es, dass man sich dann aber doch bald, wie um ein missliebiges Thema schon vor seiner vollständigen Durchdringung abzuschließen, auf der Grundlage des ausgezeichneten Kartenmaterials, das auf der Hinfahrt erstanden worden war, einem anderen Gegenstand zuwandte, nämlich dem Zeitverlust durch den Stau und über mögliche Alternativen. Eine Diskussion flackerte auf, die gleichfalls schnell ins Grundsätzliche hätte abgleiten können und die, kaum richtig in Gang gekommen, die beiden Reisenden indessen nach kurzer Zeit höchst einvernehmlich beendeten, dies angesichts ihres rein hypothetischen Charakters (n. b.: der Diskussion, nicht der Reisenden!), welcher wiederum durch eine rein sprachliche Präzisierung offenkundig wurde. Denn nun, hinter Lyon, ging es nicht wirklich, so wurde ihnen spontan bewusst, um mögliche, sondern um möglich gewesene Alternativ-Routen.

Und was wäre auch gewonnen worden, fünf Viertelstunden früher, Ankunftszeit in Ecully also um 11.15 h? Wohl kaum hätte man dort schon so früh den Mittagsimbiss eingenommen und sich in der Folge also weder den sprachlichen Herausforderungen des verbalen Maschinengewehr-Duells mit der Servicekraft bei der Komposition der menus stellen können (wobei, um auch hier sprachlich präzise zu bleiben, der Begriff „Duell“ impliziert, die Reisenden hätten in ähnlichem Stakkato zurückgeschossen, und davon kann nun überhaupt gar keine Rede sein; eine passende Antwort-Metapher wäre da eher ein Vorderlader oder eine Radschloss-Pistole, jedenfalls  etwas mit Einzelfeuer und Pausen dazwischen!), noch hätte man Anlass zu vertiefter Betrachtung des Toilettenwesens in den nördlichen Stadtbezirken von Lyon gefunden!

Ladestation Ecully

Ladestation Ecully

17. Ladestopp in Ecully
Entfernung: 97 km
Ladestand: 38 %
Rest-Reichweite: 68 km
Neuer Ladestand: 99 %
Neue Reichweite: 189 km



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